Christian Ax.
Omsk
Anmerkungen zur Zivilgesellschaft
- Der Begriff "Zivilgesellschaft" ist heute nicht nur für die Länder der
ehemaligen Sowjetunion von zentraler Bedeutung, sondern ist von Bundeskanzler Gerhard
Schröder in Deutschland wegen seiner Reformsinn stiftenden und motivierenden Kraft in den
Mittelpunkt der rot-grünen Politik gestellt worden.
- Dadurch droht eine sozusagen regierungsamtliche Besetzung des Begriffs.
- Das Fremdwort der Zivilgesellschaft verweist aus dem Englischen civil society ins
Deutsche übertragen auf eine in Deutschland recht schwach entwickelte Eigenschaft und
meint etwa: eine zivilcouragierte Gesellschaft, eine Gesellschaft der sich einmischenden
Indivi-duen.
- In Deutschland sind weder die Revolution von 1848, noch die Bismarcksche
Sozialgesetzgebung oder die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 Ausfluß einer Bewegung
mündiger Bürger gewesen und von daher auch keine zivilgesellschaftlichen Bewegungen.
- Selbst die Demokratie wurde den Deutschen, obwohl mittlerweile in Deutschland heimisch
geworden, nach dem 2. Weltkrieg von den Siegermächten verordnet.
- Nur ein einziges Mal wurde die Demokratie in Deutschland von einer
Bürgerrechts-bewegung ergriffen, nämlich 1989 in der DDR. Die damals gemachte Erfahrung:
Das beste Gegengift gegen ein totalitäres Regime liegt im Aus- und Aufbau der
zivilcouragierten Gesellschaft und ihrer freiheitlichen Institutionen.
- Ein Wandel hin zu einer zivilgesellschaftlich erneuerten Demokratie erscheint in
Deutsch-land nach dem Ende der DDR und den Jahren eines patriarchalen
Politikverständnisses unter Helmut Kohl ebenso notwendig wie in Russland nach dem Ende
der Sowjetunion.
- Im Dreieck zwischen Staat (-smacht), Markt und bürgerlicher Selbstverantwortung muss es
darum gehen, eine neue Aufgabenverteilung zu entwerfen und umzusetzen; dies läuft auf
eine paradoxe Reformpolitik des staatlichen Machtverzichts hinaus. Der Staatsapparat
sollte ab- und umgebaut werden, so dass gesetzlich geschützte Räume für eine
konkurrie-rende, politische Gestaltungsmacht von Nichtregierungsorganisationen entstehen.
- Dafür braucht es vor allem das Vertrauen in die Fähigkeiten und die Kreativität der
Bürger von Seiten des Staates und den Willen der Bürger, die vom Staat gegebenen
Freiräume auszufüllen undd zu nutzen.
- Abschied zu nehemen von staatszentrierten Politik-Visionen wie dem Sozialismus, dem
Wohlfahrtsstaat, dem Nationalstaat und anderen Beglückungsperspektiven ist in Russland
wie in Deutschland schwierig.
- Der Auf- und Ausbau einer Zivilgesellschaft von unten alleine ist jedoch schwer zu
bewerkstelligen. Er muss mit dem Widerstand der Eliten und Oligarchen in Wirtschaft und
Politik rechnen.
- Eine entscheidende Frage aus deutscher, aus europäischer Sicht ist, inwieweit eine
Zivilgesellschaft das politische Projekt Europa ermöglichen kann und Raum schafft für
den Umbau nationaler Staatsapparate in die einer europäischen Konföderation, die
kooperationsstaatlich, regulationsstaatlich und rechtsstaatlich wäre.
- Eine Gefahr für die Umwandlung in eine Zivilgesellschaft besteht darin, dass eine
größere "Selbstverantwortung" und Partzipation der Bürger von staatlicher
Seite aus als große Rationalisierungsmaßnahme verstanden wird - Kosten und Probleme nun
unter einem Deckmäntelchen auf den selbstverantwortlichen Bürger abgewälzt werden.
- Zieht sich der Staat aber aus der Verantwortung zurück, so wäre es sinnvoll, wenn er
dabei wenigstens nach folgendem Prinzip verfahren würde: Was durch den staatlichen
Rückzug oder durch staatliche Reformen eingespart wird, wird in den Ausbau der
Zivil-gesellschaft reinvestiert.
- Warum also nicht "Zivilgesellschaft wagen", Bürokratie abbauen, Kosten
einsparen und in eine Fülle von bürgerlichen Initiativen, Ehrenämtern, Diensten und
Netzwerken reinvestieren, die wichtige Dienste für die Gesellschaft in Bereichen leisten,
in denen der Staat sie nicht mehr leisten will oder kann?
- Warum nicht Universitäten, Schulen, Sozialarbeit, Verwaltungsdienst u.s.w. in einem
klar gesetzlich definierten und staatlich kontrollierten Rahmen in die Hände
zivilcouragierter Bürger legen? Derart könnte erprobt werden, ob der Staat und seine
Institutionen durch die soziale Phantasie seiner Bürger von innen her reformiert oder
wenigstens belebt wer-den könnte.
- An Feinden wird es der Zivilgesellschaft nicht mangeln. Die Feindschaft entsteht sowohl
durch die Angst um den Arbeitsplatz als auch auf intellektueller Seite hervorgerufen durch
die Unschärfe des Begriffes selbst.
- Zivilgesellschaft steht für Pluralität. Sie verneint den Glauben an die Überlegenheit
der (eigenen) Moral und ermutigt dazu, Andersglaubende und Andersmeinende nicht länger
als Feinde zu verteufeln.
- Unklar scheint bislang noch die Einstellung der Wirtschaft zur Umwandlung in eine
Zivil-gesellschaft zu sein. Sicher liegen der Ausbau von Bildung und Wissenschaft sowie
eine Verlängerung der Demokratie in die Selbstverantwortung der Bürger im
"objektiven" Interesse des Kapitals. Aber handeln die Verantwortlichen danach?
Oder einfacher ge-fragt: Sind sie bereit, dafür auch zu zahlen?
- Die europäischen Erfahrungen mit einer globalen Wirtschaft zeigen, dass das
Steueraufkommen großer Konzerne durch deren internationalen Aktivitäten sinkt, die
Steuerlast wird mehr und mehr von individuellen Bürgern sowie kleinen und lokalen
Betrieben getragen. Ein klarer Fall sozialer Ungerechtigkeit, den es zu beseitigen gilt.
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